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Ein Dirigent analysiert die Komposition des Rheingold

Liebe Wagner-Leser,

gerade lief das Rheingold über die Berliner Bühne, kurz zuvor erschien ein Buch über den genialen Vorabend der folgenden Trilogie. Wer Will Humburgs Studie über die musikalische Gestalt gelesen hat, wird Wagners Genie noch höher einschätzen können, als er es eh schon tat – denn der Autor (ein praktizierender Ring-Dirigent, der das Werk aus dem FF kennt) führt uns in Tiefen, die wir bislang, wenn überhaupt, eher unbewusst wahrnahmen, obwohl Wagner sie unfassbar genau komponierte.

Also: Ich kann dieses Buch jedem Ring– und Wagnerfreund sehr warm und nachdrücklich empfehlen.

Herzliche Grüße aus Mimes Rezensentenhöhle

Frank Piontek

Will Humburg: Wagners Rheingold. Eine Deutung von Leitmotivik und Orchestration. Königshausen & Neumann, 2021.

Brillant und originell: Will Humburgs Rheingold-Interpretation aus dem Geist der Musik

Als Max Kalbeck 1876 die ersten Bayreuther Festspiele besuchte, hinterließ er anlässlich des Zitats des sog. Walhall-Motivs zu Alberichs Drohung „Habt Acht vor dem nächtlichen Heer“ folgenden Schluss: „Das sind Sachen für den musikalisch feinschmeckenden Kenner, der die Partitur so fest im Kopfe sitzen hat, dass man nur anzuklopfen braucht, um sämtliche Motive zum Vorschein zu bringen. Auf das Publikum indessen können solche geistreiche Kniffe keinen Eindruck machen, weil sie gar nicht bemerkt werden.“

Jeder Musikfreund, der glaubt, den Ring zu kennen, weiß um das Gefühl, wenn er von Neuem den Ring hört: dass er Anklänge, Zitate und Variationen der bekannten, in den einschlägigen Leitmotiv-Tafeln gelisteten Motive und Themen mehr oder weniger deutlich hört. Schaut er beispielsweise in Julius Burgholds Textausgabe, die die einzelnen Stellen am Textrand aufführt, wird er feststellen, dass zum einen schon im initialen Stück der Tetralogie die Einsetzung der Motive reichlich ist und zugleich – anders als in der Götterdämmerung, in der Wagner sein Verfahren (scheinbar) bruchlos verwirklichte – noch Lücken zwischen den einzelnen Lokalitäten klaffen. Als Götz Friedrich einmal gefragt wurde, welcher der vier Ring-Teile am genialsten sei, nannte er nicht eines der „großen“ Stücke, sondern das Rheingold, das in seiner Beliebtheit hinter der Walküre zurücksteht. Er hatte Recht, denn Wagner realisierte bereits zu Beginn seiner kompositorischen Arbeit am schließlich ersten Werk des Vierteilers seine revolutionäre Technik auf eine Weise, von der nur der etwas weiß, der sich die Partitur so genau anschaut, wie es Will Humburg nun tat.

Ein neues Buch über das, was Wagner selbst nicht als „Leitmotiv“, sondern als „Gefühlswegweiser“ bezeichnete, setzt sich dem Verdacht aus, nur das wiederzukäuen, was die Vorgänger schon abgearbeitet haben. In jüngerer Zeit waren das, um nur einige Autoren zu nennen, Uwe Färber, Melanie Unseld und Wolfgang Fuhrmann, Tobias Janz und Peter Berne; Christian Thorau veröffentlichte 2003 mit Semantisierte Sinnlichkeit eine grundlegende Studie zum Problem der „Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners“. Vergleicht man diese theoretisch anspruchsvollen Arbeiten mit der Monographie, die der vielgelobte Dirigent des Münsteraner Rings veröffentlichte, wird man schnell feststellen, dass ein Musiker, der Wagners Musik aus der Praxis kennt und zugleich in der Lage ist, über den Gehalt der Musik zu schreiben, der aus ihrer Struktur gewonnen werden kann, zu Interpretationen zu kommen vermag, die uns das Werk – tatsächlich – auch und gerade in Bezug auf die szenische und psychologische Deutung neu begreifen lassen. Dass Humburgs Motivliste 39 Nummern umfasst (nicht gezählt die Motive, die zusätzlich im Text erläutert werden), Burgholds kanonische Liste nur 30, ist weniger wichtig als der Umstand, dass Humburg mit seiner Takt für Takt vorgehenden Untersuchung ein von Theodor W. Adorno geäußertes Diktum, dem vermutlich immer noch einige Ring-Hörer glauben, in Grund und Boden rammt. Dass „das Motiv als Zeichen eine geronnene Bedeutung vermittelt“, wie Adorno im dritten Kapitel des Versuchs über Wagner schrieb, ist zwar längst widerlegt, aber selten wurde es so nah am Material dargestellt, was nicht allein daran ablesbar ist, dass Burghold sein Schema gelegentlich zu starr in Einsatz brachte, indem er Motivvarianten und -anspielungen (absichtlich?) ignorierte. Humburg sieht zudem das Motiv, seine Abspaltungen, Varianten und Anspielungen, nicht unabhängig vom Produktionsmedium – seine Arbeit bringt, weit über Tobias Janz‘ Klangdramaturgie hinaus, die Leitmotivik mit der Orchestration zusammen. Neu ist die dezidierte Analyse von Leitrhythmen und Leitakkorden. Versehen mit diesen „tools“ vermag der Autor, jene Lücken zu füllen, die Burgholds Motivzuweisungen noch besitzen, oder anders: So gut wie kein Takt des Rheingold ist frei von den grundlegenden Elementen und Motiven/Themen, die das musikalische Gewebe des „Vorabends“ in beeindruckendster Fülle und Fantasie ausmachen. Werden, an einer einzigen signifikanten Stelle im 4. Bild, über mehrere Takte keine Motive ins Spiel gebracht, hat auch dies einen Sinn, der sich aus der Dramaturgie ergibt: Wenn sich Wotan und Alberich um den Ring streiten und jenes Motiv, das dem Gegenstand zugeordnet werden kann, gerade nicht ertönt, verweist die Fehlstelle nicht auf eine Nachlässigkeit des Komponisten, sondern auf etwas Unausgesprochenes, das in diesem Fall absichtlich unerwähnt bleibt. Ansonsten offenbart das allwissende Orchester ja reichlich, worum es den streitenden Herr und Frauschaften bewusst und unbewusst geht. Im Widerspiel von Text und Musik fungiert die höchst rational konstruierte Musik als „eigenständige Bedeutungsebene“ (S. 10): diese Ebene en detail zu beschreiben war der Vorsatz, der den Wagnerschen „Beziehungszauber“ (wie Thomas Mann ihn nannte) in absolut eigenständiger Weise entschlüsselt, ohne ihm seine Magie zu nehmen. Dafür gibt es schon rein wissenschaftliche Gründe, denn der praktische Kenner der Partitur vermag es sogar, Egon Voss an einer Stelle zu korrigieren (die Wagnertuben treten wesentlich früher in Erscheinung, als es Voss einst in seinen Studien zur Instrumentation Richard Wagners behauptete). Schrieb Werner Breig (2013 in Richard Wagner. Persönlichkeit, Werk und Wirkung), dass erst im zweiten Walküre-Akt „das wohl früheste Beispiel für die kontrapunktische Verbindung zweier selbständiger thematischer Gestalten“ zu finden sei, erhalten wir von Humburg den Beleg dafür, dass schon im Rheingold Parallelstellen auftreten. Wo Motivik und Instrumentation ineins gesetzt werden, kommt Humburg darauf, dass es nicht allein eine Leitmotivik, sondern auch eine Leitinstrumentaion gibt, von deren Differenziertheit selbst Ring-Kenenr kaum etwas ahnen. Dass Wagner ein großer Farbenmaler war, der in Sachen Instrumentation sehr genau arbeitete, ist bekannt, aber dass jedes Instrument, jede Instrumentalmischung und so gut wie jedes Kolorit im Sinn von „Leitklangfarben“ genauen Mustern gehorchen, die gedeutet werden können, blieb – mit bezeichnenden Einschränkungen – zu beweisen.

„Dabei kommt es nicht darauf an, dass jede einzelne von mir formulierte psychologische, philosophische oder auch politische Interpretation der ungeheuer vielfältigen Querbezüge ‚richtig‘ ist. Entscheidend ist – und zwar für Ausführende und Hörer -, überhaupt eine Deutung zu suchen…“ (S. 13). Angesichts der banalen Tatsache, dass das abendländische Tonsystem über relativ wenige Töne und auch die rhythmische Komplexität des Rheingold – im Vergleich zu den indischen tâlas, auf die sich Oliver Messiaen bezog – relativ schlicht anmuten mag, verwundert es natürlich nicht, dass der Interpret einer vom Komponisten unkommentierten Partitur auf Bezüge stößt, deren Relevanz eher in einem hermeneutischen Zirkel als in einer widerspruchsfreien und objektiv sein wollenden Analyse wurzeln muss. Da Wagner sich selbst so gut wie nie über die detaillierte musikdramatische Deutung und den Kompositionsprozess seiner Werke geäußert hat, haben viele Deutungen spezifischer Instrumentationen und Motive zunächst hypothetischen Charakter, doch ergibt sich im Zusammenklang aller Komponenten und Beobachtungen am Ende denn doch ein stringentes Bild, in dem gewagtere Deutungen völlig legitim sind. Humburg vermag tatsächlich zu zeigen, wie sich aus Motivmetamorphosen (am bekanntesten dürfte der Übergang vom sog. Ring-Motiv zum Walhall-Thema sein) neue Komplexe ergeben, wie sich aus wenigen Grundmotiven kompliziertere Gebilde ergeben, wie sich durch Leitrhythmen („Lebenskraft-Rhythmen“ und „Todes-Rhythmus“ genannt) Bedeutungen ergeben, die weit über bestimmte Figuren (wie die Zwerge oder Rheintöchter, die im gemeinsamen Rhythmus verbunden sind) hinausgehen, wie in Leitakkorden (etwa dem „Verführungs-Akkord“) Zusammenhänge zwischen Szenen und Opern geschaffen werden, die – darauf verweist Wagners Wort vom „Gefühlswegweiser“ – den Zusammenhang zwischen dem ersten und letzten Akkord des Ring zu stiften vermögen. Die Erläuterung jenes zentralen Motivs, in dem man gewöhnlich nur zwischen Freias Fluchtmotv und Siegmunds und Sieglindes Liebesmotiv Zusammenhänge sieht, als Nukleus vieler anderer Entwicklungen, die allmähliche Verfertigung des sog. Vertragsmotivs beim dramaturgisch genauen Komponieren: all das ist mehr oder weniger „bekannt“, wurde aber noch nie so genau in Bezug auf Szene, möglicher Inszenierung und Innenleben der handelnden Figuren an Hand der Musik hergeleitet. Entscheidend bleibt die These, dass es Wagner selbst beim sog. Schwert-Motiv nicht auf die dinghafte Zuweisung bestimmter Motive an Objekte und Figuren, sondern um eine psychologisch vertiefte Verknüpfung musikalischer Prozesse mit den gestisch und / oder textlich vermittelten Szenendetails ging. Nur so kann Humburg dahinter kommen, dass Loge vielleicht schon zu Beginn der zweiten Szene anwesend war, weil die Musik uns verrät, dass er den Disput zwischen Fricka und ihrem Göttergatten belauscht hat – die alternative Deutung bestünde darin, dass uns das Orchester nur verrät, was es weiß. Nimmt man Wagners Musikalisierung Ernst, dürfte es schwer sein, Humburg zu widersprechen, denn wieso sollte der Feuergott eine Melodie singen, die zuvor von Fricka angestimmt wurde? Nicht allein diese Stelle sagt uns Wesentliches über Wagners „Worttonmelodie“ und die erstaunlich häufige Entstehung eines Motivs aus gesungenen, nicht allein aus orchestralen Strecken (und auch dies kann gegen Adornos erstaunlich falsche Behauptungen in Anschlag gebracht werden).

Was aber hat der Ring mit der Politik zu tun? Dass der Ring ein politisches Kunstwerk ist, ist bekannt, aber wirklich spannend (und möglicherweise einzig relevant, wenn wir der Musik das Vorrecht der verbindlichen Textdeutung einräumen) wird die betreffende Deutung der Tetralogie dort, wo die Musik selbst Politik abbilden oder spiegeln kann. Die Frage, inwiefern Musik überhaupt politisch zu sein vermag – eine Frage, an der sich Martin Geck in Zwischen Romantik und Restauration, also über die „Musik im Realismus-Diskurs 1848-1871“ seltsam theoretisch abgearbeitet hat, wird von Humburg eindeutig beantwortet: „Sozialistische“ Musik entsteht dort, wo die Wehe-Sekunde, das Ring-Motiv und andere Motive in der Nibelheim-Szene zusammenkommen, um das industrielle Proletariat, dem Mime angehört, über die üblichen Ambossschläge der Verwandlungsmusiken und des Schmiede-Motivs musikalisch konkret zu zeichnen (S. 109). Die dritte Verwandlungsmusik, die gleichfalls brillant beschrieben wird, vereinigt Riesen und Zwerge dann auf eine Weise, die, „kühn interpretiert, musikalisch die von Marx und Engels im ‚Kommunistischen Manifest‘ 1848 zeitgleich mit dem Beginn von Wagners Arbeit am ‚Ring‘ geforderte Vereinigung der ‚Proletarier aller Länder‘“ (S. 130) festhält. Wem diese Deutung zu vulgärmarxistisch erscheint, möge eine andere Idee über  den Zusammenklang von Riesen- und Schmiedemotiv vorlegen.

Mit anderen Worten: Humburg legte eine ungewöhnlich ambitionierte und geglückte Arbeit vor, die den ungeheuren Reichtum des Rheingold in Sachen Instrumentation und (damit zusammenhängender) Motivarbeit Schicht für Schicht auf deliziöse Weise sichtbar macht und selbst dort, wo sie nicht unmittelbar einleuchtet oder leicht überzogen anmutet, zum Nachdenken über Funktion und Gehalt eines Musikdramas zwingt, das Camille Saint-Saens nicht grundlos als „Goldschmiedearbeit“ bezeichnete. „Heute floß mir das Rheingold bereits durch die Adern: muß es denn sein, und kann es nicht anders sein, so sollt Ihr denn ein Kunstwerk bekommen, das Euch Freude machen soll!“, schrieb Wagner Ende Oktober 1853 an Franz Liszt. Humburg hat dieses Kunstwerk so beschrieben, als kennten wir es nicht  – weil uns die „geistreichen Kniffe“, von denen Max Kalbeck 1876 sprach, immer noch überraschen können.

Frank Piontek, 3.12. 2021

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