Leitgedanke
Richard Wagner war ein Jahrhundertereignis, das nicht nur seine Mitwelt beeinflusste, sondern auch seine Nachwelt – und das bis heute. Aus dem Jahrhundertereignis wurde ein Weltereignis, ein Kulturerbe von transnationaler Bedeutung. Wie immer man seine Kunst, sein Denken und seine Persönlichkeit beurteilen mag, seine Wirkung ist so umfassend, dass wir uns mit ihr auseinanderzusetzen haben, wenn wir Kultur und Geistesgeschichte im Übergang vom 19. ins 20. und 21. Jahrhundert verstehen wollen.
Wagner hat polarisiert und tut das bis heute. Immerhin umfasst sein Denken extreme Gegensätze bei einem radikalen Anspruch auf Gültigkeit. Als „Brennspiegel“ seiner Zeit bündelt er Revolutionäres und Reaktionäres, produziert epochal Neues und kritisiert dennoch zivilisatorisch Fortschrittliches. Seine unmittelbare Nachwelt transformiert sein Denken im Zeitgeist des Übergangs zum 20. Jahrhundert zu Ideologismen des Nationalismus und des Antisemitismus. Tatsächlich haben seine Schriften nutzbare Anknüpfungspunkte dazu geliefert.
Wie müssen wir uns also heute mit Wagner auseinandersetzen, wenn wir seinem Denken und seiner Kunst angemessen begegnen wollen? Kritisch und aufgeklärt, ohne Vorbehalte und Eklektizismus! Es ist ebenso töricht, Wagner auf Knien in Anbetung zu huldigen, wie ihn aus der Pose eines halbgebildeten Geschichtsbewußtseins als Wegbereiter Hitlers zu verwerfen.
Wer sich ernsthaft mit dem Jahrhundert- und Weltereignis Wagner auseinandersetzt, muss Wagner ganz zur Kenntnis nehmen. Alles andere wäre bequeme Selbsttäuschung.
Frank Sarnowski