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Wagner und Debussy

Liebe Opernfreunde,

die Frage, ob nicht angesichts des ach so schrecklichen sog.
„Regietheaters“ konzertante Aufführungen gerade der geliebten Werke Richard Wagners viel besser seien als szenische Aufführungen, die „das Werk“ ja nur verhunzen würden: diese Frage dürfte von gar nicht so wenigen Operngängern mit „Ja“ beantwortet werden. Dabei ist es wieder mal viel vielfältiger, als es den Anschein hat – zu beobachten an der konzertanten Aufführung eines Werks, das ohne den Einfluss Richard
Wagners nicht oder jedenfalls nicht so entstanden wäre: „Pelléas und Mélisande“.

Claude Debussys wunderbare Oper – seine einzig vollendete Oper – hatte am Samstag Premiere am Nürnberger Staatstheater: konzertant. Meine Anmerkungen zu dieser Aufführung und der Frage, wie sinnvoll eine solche Präsentation ist (oder sein könnte), können Sie anbei lesen. Was Debussy und Wagner betrifft, so wäre zu diesem komplexen Thema viel zu sagen, allgemein aber: So sehr auch der Einfluss zumal des „Parsifal“, viel weniger als des stofflich verwandten „Tristan“, im „Pelléas“ hörbar ist, so sehr reduzieren sich die Erinnerungen an den Gralsmarsch und die
Düsternis der Gralswelt, wenn man sie als Einschmelzungen in einen völlig individuellen Orchesterklang wahrnimmt. Debussy selbst hat sich – als Musikkritiker Monsieur Croche – belustigt über die Leitmotivtechnik des „Ring“ (in dem es „Stellen von glühender Schönheit gibt“) geäußert: „Das wirkt so fade und dumm, als ob jemand, der Ihnen seine Visitenkarte überreicht, Ihnen lyrisch vordeklamieren würde, was darauf steht“. Doch
seine eigene Technik, Motive zu verarbeiten, leitet sich von Wagner ab – folgt ihr jedoch auf subtile, d.h.: nicht immer unmittelbar hörbare Weise (ähnlich, wie Strauss dann in der „Frau ohne Schatten“ die Motive sich auseinander entwickeln ließ).

Am besten, Sie hören selbst hinein in diese Wunderpartitur:
https://www.youtube.com/watch?v=lc7h0BLCBQk

Viel Freude beim Hören und Lesen wünscht

Frank Piontek

Pelléas und Mélisande Uraufführung 1902

PELLÉAS UND MÉLISANDE

Nürnberg, Staatstheater. Konzertante Premiere: 23.1. 2022

Eine konzertante Oper ist ein ästhetisches Unding, denn eine Oper wird immer im Hin-Blick (!) auf Szene und Bühne komponiert. Eine Oper ohne bewegtes Bild ist nichts als ein Fragment. Dies gilt in besonderem Maß für Debussys Pelléas et Mélisande, denn die Handlung ist, wie man älteren Opernführern entnehmen kann, kaum das, was man als „Aktion“ bezeichnen könnte. Eine Aufführung gerade von Pelléas et Mélisande ist also ein Unding hoch zwei, weil dem handlungsarmen Stück noch der letzte Rest an Dramatik abgeht, wenn man es rein konzertant bringt.

Nichts davon stimmt. Debussy selbst hätte, in seiner Eigenschaft als ironischer Musik- und Theaterkritiker namens Monsieur Croche, vom abgestandenen Quark der mumifizierten Meinungen vermeintlicher Experten geschrieben.

In Wahrheit bietet eine konzertante Aufführung von Debussys musikdramatischem Hauptwerk nämlich ein non plus ultra an Sinnlichkeit und Spannung. Nicht allein, dass die Verfasser der alten Opernführer sich gründlich irrten, als sie „Dramatik“ mit „action“ gleichsetzten (Honolka, 1966: „Debussys Vertonung verschmäht alle Operneffekte“; Steger und Howe, 1968: „Pelléas und Mélisande ist als Bühnenwerk nicht lebensfähig“, Kloiber, noch 1978: „Pelléas und Mélisande verzichtet gänzlich auf die sogenannten dankbaren Opernwirkungen“). All das ist barer Unsinn – vorausgesetzt, man akzeptiert, dass „dankbare Opernwirkungen“ und „Operneffekte“ seit der Premiere des Werks im Jahre 1902 etwas anders definiert werden können als zu Zeiten der sog. Belcanto-Oper, Giuseppe Verdis oder des sog. Verismo. Die Autoren hinkten damals, lange nach ganz anderen Opernerfolgen, weit hinter ihrer Zeit hinterher. Es hat schließlich einen Grund, wieso das Drame lyrique immer dann, wenn es (selten, aber zugleich regelmäßig, denn es bleibt ein lebensfähiges Opus für Feinschmecker) aufs Programm gesetzt wird, die Zuschauer zu entzücken weiß und tief zu beeindrucken vermag. Misst man die Vitalität dieses Werks allein am Applaus, den die konzertante Aufführung der Oper im Nürnberger Staatstheater erfuhr, ist die Sachlage völlig eindeutig: Pelléas hat sein Publikum im Innersten erreicht – und dies vielleicht nicht (doppeltes Ausrufezeichen) obwohl, sondern weil die Bühne fehlte.

Allein auch diese Aussage ist Unsinn – denn eine wenn auch konzertante Aufführung einer Oper ohne szenischen Ausdruck, ohne jene Emotionalisierungen, die, angeblich, allein eine Bühnenaufführung zu vermitteln vermag, ist unmöglich. Wenn Julia Grüter als Mélisande, Sangmin Lee als Golaud und Samuel Hasselhorn als Pelléas vor dem Orchester stehen, muss der Zuhörer und -schauer nichts (ich betone: nichts) vermissen. Wenn Julia Grüter in der Begegnung mit Pelléas wie unschuldig in sich hineinlächelt, wenn Sangmin Lee einen brutalen Golaud zum Ausbruch bringt und Samuel Hasselhorn einen zwischen Jugend und Reife changierenden Pelléas genügend andeutet, wenn sich das Liebespaar im einzigen nichtpragmatischen Gang an diesem Abend auf dieser Bühne zueinander wendet, eine der berühmten Debussyschen Pausen erklingt und sie sich plötzlich ihre seltsame Liebe gestehen, wird lediglich das Pünktchen auf ein I gesetzt, das vom ersten Takt an im Raum steht. Kommt hinzu, dass es gerade Maurice Maeterlincks Text, in Verbund mit Debussys durchaus nicht unkonkreter oder gar raunender Musik, ist, der im Zuhörer ein höchst intensives inneres Theater provoziert, das mit den sparsamsten Gesten und der deutlichen Mimik der Sänger harmoniert. Was an diesem Abend entsteht, ist ein Gesamtkunstwerk aus inneren und äußeren Bildern, die ohne Bühnendekorationen auskommen; nur das Licht am Rückprospekt sorgt für Wirkungen, die man impressionistisch nennen könnte, wäre das Wort nicht so problematisch, weil es eine Verschwommenheit suggeriert, die Debussys Musik eben gerade nicht besitzt. Pierre Boulez hatte Recht, als er in einem bedeutenden Aufsatz über das Werk bemerkte, dass es nicht der Traum und das Unbewusste, sondern die Präzision und die Klarheit sind, die den Pelléas auszeichnen: musikalisch, aber auch dramatisch, wenn man einmal alle Informationen zur Kenntnis nimmt, die uns der Text in erstaunlich reichem Maße gibt. Manch Inszenierung der letzten Jahre hat uns gezeigt, dass dem Werk mit symbolistischem Nebel nicht beizukommen ist. An die Stelle einstiger phantastischer Imaginationen (gewiss: einige Motive von Maeterlincks Drama verdanken sich dem Märchenfundus) traten „realistische“ Ansichten des Fin de siècle oder einer psychisch gestörten Gegenwart. Es scheint eine Geschmacksfrage zu sein, ob man eher kalte und harte Deutungen des „lyrischen Dramas“ bevorzugt oder fabelhaft andeutende; dass die Regie gerade in ersterem Fall übers Ziel einer schlackenlosen Deutung hinausschießen kann, muss nicht betont werden. Der Rezensent möchte auch nicht all jenen Lesern und Zuhörern Wasser auf die Mühlen geben, die das „regietheater“-geschädigte Mantra verkünden: „Konzertant ist‘s eh immer besser, denn da stört keine Inszenierung mehr die Oper“. Sagen wir so: Konzertante Glücksfälle wie die Nürnberger Premiere einer Oper, die an diesem Abend eigentlich ihre szenische Premiere hätte erleben sollen und aus bekannten Gründen durch ein Hör-Spiel, das doch viel mehr ist, ersetzt wurde, diese Glücksfälle sind die Ausnahme, nicht die Regel.

Es liegt natürlich auch und zum Wesentlichen am Orchester, das die intimsten Regungen und Dialoge grundiert, begleitet, akzentuiert und ausmalt. Wenn Joana Mallwitz am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg steht, darf man sicher sein, eine glasklare, aber keinesfalls aseptische Interpretation von Debussys Meisterpartitur zu erhalten. Boulez hat vor über einem halben Jahrhundert geschrieben, dass jede Szene der Oper eine eigene Temponahme verlangen würde – Joana Mallwitz verbindet eine gesteigerte Flexibilität eben jener Tempi mit einer dramatisch stringenten, niemals schleppenden, niemals hetzenden Deutung des dramatischen Duktus, in dem die leuchtenden Höhepunkte (wenn die Trompete glänzt und die hohen Streicher sich aus dem Schatten Allemondes herausbewegen) zu Markierungspunkten in einem stetigen, quasi logischen musikalischen Fluss werden. Das Orchester glänzt an diesem Abend auf besondere Weise, und dies nicht allein deshalb, weil ihm, glücklicherweise, in den drei Aufführungsstunden wesentlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden kann als in einer Bühnenaufführung.

Kommen die Sänger hinzu: allen voran Julia Grüter, die mit ihrem bekannten glasklaren Sopran eine jugendlich anrührende Mélisande singt, dann Samuel Hasselhorn, der seinen lyrischen Tenor mit einem Gran Heldenmut anreichert, zum Dritten Sangmin Lee, der mit seinem kraftvollen Bass für die dynamisch stärksten Attacken des Abends sorgt. Alma Unseld ist ein hervorragender Yniold, Helena Köhne eine sehr gute Geneviève, Taras Konoshchenko ein prägnanter Arkel. Die Wurzen sind mit Michal Rudzinski (ein Arzt) und Gor Harutyunyan (ein Hirte) ordentlich besetzt. Die Schafe schreien um ihr Leben, das  Meer bewegt sich, der Wind weht, die Schatten fallen tief – auch das Hörbild der Natur war an diesem Abend vollkommen. Eine konzertante Oper ist ein ästhetisches Unding?

Was für ein Unsinn!

Frank Piontek, 24.1. 2022

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