Liebe Venedig-Freunde,
Wagner und Venedig – das ist ein komplexes Thema. Ich möchte mich heute auf einen einzigen Teilbereich beschränken: auf Tizian, also auf Tiziano Vecellio, der nicht allein ein großer, sondern auch ein epochemachender Künstler war. Mit seinen Werken hat er definitiv in die Kunstgeschichte eingegriffen, indem er – fußend auf Giovanni Bellini und Giorgione – eine neue Art des bewegten Bildes erfand.
Anbei also einige Anmerkungen zu Wagner und einem bestimmten Bild, das in der Frari-Kirche besichtigt und reflektiert werden kann: die Assunta.
Wagner und die Assunta
Wagner kam erst spät zur Bildenden Kunst; der Renaissance konnte er wenig abgewinnen. Am bekanntesten dürfte in Sachen Tizian jene Episode sein, die ihn uns vor der Assunta, also der auferstehenden Madonna zeigt. Wagner sah sie zusammen mit den Wesendonks, als er mit ihnen die Stadt besuchte, wo, wie er in Mein Leben schreibt, „Tizians Himmelfahrt der Maria im großen Dogensaale eine Wirkung von erhabenster Art auf mich ausübte, so dass ich seit dieser Empfängnis in mir meine alte Kraft fast wie urplötzlich wieder belebt fühlte. / Ich beschloss die Ausführung der Meistersinger.“ Man hat sich natürlich gefragt, welchen Bezug das Gemälde zu den Meistersingern hat. Peter Wapnewski brachte die Madonna mit Wagners „Entsagung“ betr. Frau Wesendonk und Sachs und Eva und noch Anderem in Zusammenhang. Martin Gregor-Dellin fand eine physiologische Ähnlichkeit zwischen der Madonna und der Mathilde, aber wenn man sich die beiden Gesicher genau anschaut, was durch die in diesem Jahr abgeschlossene Restaurierung noch besser möglich ist als vorher, wird es immer unwahrscheinlicher, dass Wagner die gemalte an die neben ihm laufende Frau erinnerte. Vermutlich fühlte sich Wagner angesichts des in jedem Sinne großen Bildes nur an seine eigene Schöpferkraft erinnert, um den längst gehegten Plan endlich Noten werden zu lassen. 1879 wird Cosima Wagner übrigens die Himmelfahrt mit „Isoldens Verklärung“ parallelisieren – ein weitere Variante des Themas „Wagners Erlösungen im Spiegel der Kunst“.
Wagner sah die Assunta freilich nicht im Dogenpalast, sondern in der Accademia, wo das Bild seit 1819 in der Sala I hing, aber das nur nebenbei. 1871 sah er sie spätestens wieder („Meine Lieblings-Madonna von Tizian gefällt auch R., sehr zu meiner Freude“, schreibt die Gattin ins Tagebuch), 1876 findet er, dass das Gemälde „fast die Grenzen überschreiten“ würde. Am 12. Oktober 1880 stört er sich an der Figur Gottes: „die Vorstellung im Tempel“ – ein weiteres, für den Bau konzipiertes Meisterwerk Tizians in der Accademia – „scheint ihm dadurch vollendeter, dass sie nicht, Höchstes erstrebend und erweckend, es ‚durch einen Klecks‘ zerstört.“ Der Klecks ist kein Geringerer als Gott. Ein paar Wochen später, im Dezember 1880, wird weitergemäkelt: „in dem Ausdruck sei der Schmerz der gebärenden Mutter und des Liebes-Entzückens gemischt, und deshalb stören einen die so nahen Apostel und Jünger und alle diese Missverhältnisse“. Die Apostel werden rehabilitiert, als Cosima Wagner am 25. April 1882 Folgendes festhält: „Der glühende Kopf der Maria bringt ihm seinen Gedanken wieder des Geschlechtstriebes; das einzig Mächtige, nun von allem Begehren befreit, der Wille entzückt und erlöst. Der ‚Fledermaus‘, dem lieben Gott, kann er nicht gerecht werden, obgleich er ihn fein gemalt findet. Aber die Apostel fesseln ihn. Es sind selige Augenblicke, die wir da verweilen! Jedes Mal, dass er den Kopf wieder betrachtet, ruft er entzückt aus!“ „Isolde in der Liebes-Verklärung“ – diese Deutung der aufstrebenden Figur hat Wagner (am 22. Oktober 1882) von seiner Frau übernommen. Sie verbindet den Wagner, der gerade den Tristan vollendet hatte und sich auf die Meistersinger vorbereitete, mit dem Wagner, der den Parsifal mit seinem ganzen Liebes-Mitleids-Erlösungszauber gerade hinter sich gelassen hatte. Vielleicht ist es kein Wunder, dass er nach Abschluss des Opus ultimum plötzlich auch die Apostel gar nicht mehr so übel fand…
Frank Piontek, 22.11. 2022
Beste Grüße
Frank Piontek