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Wagner liest Dante

Liebe Literaturfreunde,

heute vor genau 700 Jahren – segnete „il gran padre Dante“, wie ihn Giovacchino Forzano im Libretto der Dante-Oper „Giannis Schicchi“ nennt, das Zeitliche.

Auch Wagner hat Dante gelesen und über ihn nachgedacht. Vor vielen Jahren veröffentlichte ich einen Aufsatz über Wagners Dante-Lektüren, den Sie komplett abgedruckt in meinem Buch „Plädoyer für einen Zauberer. Richard Wagner: Quellen, Folgen und Figuren“ (Köln 2016, S. 417-428) finden. Wenn Sie noch nicht die sog. Divina Commedia gelesen haben und das Unternehmen zu schwierig finden sollten, empfehle ich Ihnen, das Werk in einem Zug zu lesen – ich hab’s gemacht: im Zug, der mich seinerzeit, freilich mit Unterbrechungen, von West nach Ost durch die Lombardei fuhr.

Und wenn Sie keine Lust haben, Dante zu lesen, sondern zu hören, können Sie jenes Werk hören, mit dem sich auch Wagner beschäftigt hat: Liszts Dante-Symphonie, mit Gustave Dorés Bildern, denn Liszt wollte den auch von Wagner verehrten, in Weimar wirkenden Maler Bonaventura Genelli beauftragen, Bilder für seine Symphonien zu malen, die während der Aufführungen dioramenartig gezeigt werden sollten – eine Idee, die einmal während des von Nike Wagner geleiteten Weimarer Kunstfests mit Dorés Graphiken realisiert wurde:

„Dergleichen gibt es bei Dante…“

Wagner liest Dante

(…)

In der Tat gehört Dantes Divina Commedia – deren Titel sich, streng genommen, nur auf den ersten Teil, das Inferno bezieht – zu jenen wenigen Werken, deren Größe über die Jahrhunderte, über alle weltanschaulichen Gegensätze hinweg, gleichsam geisteinhauchend wirkte. Kurt Leonhard nannte in seiner Dante-Monographie dessen 14200 Verse umfassende Wanderung von der Hölle über den Läuterungsberg ins Paradies, die der Dichter kurz nach 1300 im Exil geschrieben hatte, die Abrechnung mit der Politik seiner Zeit, den sinnlosen, blutigen Kämpfen der „Weißen“ mit den „Schwarzen“, die seine Heimatstadt Florenz unbewohnbar gemacht hatten – Kämpfe, an denen Dante, wie er einsehen musste, wohl schuldhaft beteiligt war -, die „berühmteste aller berühmten Dichtungen des Mittelalters“, Hermann Hesse sprach von einem der wenigen „Jahrtausendbücher“, und Goethe würdigte immerhin, weil er „das Ganze nicht eben rühmen wolle (…), den seltsamen Reichtum der einzelnen Lokalitäten“, von dem er „in Staunen gesetzt, verwirrt und zur Verehrung genötigt“ wurde – dass er, dessen Urteil differenziert reserviert scheint, schon Jahre zuvor den Impuls für das Finale des zweiten Faust auch im Gang durch Dantes Paradiso fand, sagt mehr aus über Dantes Wirkungsmächtigkeit als über Goethes literarhistorisches Bewusstsein. Jenes Urteil findet sich in einem Aufsatz, den Goethe im selben Jahr, in dem Adolf Wagner seinen Parnasso italiano publizierte, einem Brief an Carl Friedrich Zelter beilegte. Dieser sollte ihn an Karl Streckfuß weiterleiten, dessen dreibändige Übersetzung 1826 mit dem Paradies geschlossen vorlag; auch sie findet sich in Wagners Dresdener Bibliothek. Daneben besaß Wagner die Übersetzung seines Landesvaters, König Johann von Sachsen, die unter dem Decknamen des Philateles, „metrisch übertragen und mit kritischen und historischen Erläuterungen versehen“, zwischen 1839 und 1849 herauskam.

Erst im Exil sollte sich Wagner wieder intensiv mit dem Werk des Italieners befassen. 1855 besuchte er England, um einige Konzerte in London zu geben. Hier hoffte er auch, die Instrumentation der Walküre abschließen zu können, aber die Arbeit an der Partitur ging bedeutend schleppender vonstatten als die Komposition des Werks. Sein späterer Bericht lässt einiges von den Malaisen ahnen: „Mit völliger Verzweiflung warf ich mich dagegen auf die Lektüre des Dante, welchen ich hier zum ersten Male ernstlich vornahm und dessen Inferno durch die Londoner Atmosphäre für mich eine unvergessliche Realität bekam.“ Später sollte er die neblige Industriewelt Londons mit den unterirdischen Klüften im Nibelheim Herrn Alberichs vergleichen – aber Wagner scheint, wie es schon die Briefe dieser Tage bezeugen, seinen Gemütszustand stark dramatisiert zu haben, womit er dem Dante vielleicht einiges zu schulden glaubte: „Jetzt lese ich jeden Morgen, ehe ich an die Arbeit gehe, einen Gesang im Dante: noch stecke ich tief in der Hölle; ihre Grausen begleiten mich in der Ausführung des zweiten Actes der Walküre. Fricka ist soeben fort, und Wodan soll in seinem schrecklichen Wehe ausbrechen“, so vermeldete er es am 30. April 1855 der Mathilde Wesendonck. Zwei Wochen später, am 16. Mai, fokussiert er in einem Brief an Liszt die Situation zum Höllenbild: „Ich lebe hier, wie ein Verdammter in der Hölle.“ Nun polemisiert er gegen die Konzerte, die er dirigieren muss, gegen die Musiker wie das Publikum. Auch kommt er langsamer mit der Partitur voran, als erwartet: „Durch diese Hölle begleitet mich nun die Lectüre des `Dante´, zu der ich früher noch nie kam. Durch sein Inferno bin ich durch, und befinde mich jetzt an der Pforte des Fegefeuers. Wahrlich, ich bedarf dieses Fegefeuers: denn, wenn ich es recht überlege, hat mich ein wahrhaft sündhafter Leichtsinn nach London geführt, den ich jetzt mit Inbrunst abzubüßen habe. Ich muss, ich muss resignieren.“ Der Schluss ist so poetisch wie kokett: „So will ich denn hoffen, aus dem Fegefeuer noch einst in das Paradies zu gelangen: die frische Luft des Seelisberges verhilft mir vielleicht dazu. Ich leugne nicht, dass ich gern dort Beatrice träfe!“

Freilich gab es für Wagner einen Grund, sich in London ausführlich mit der großen Dichtung zu befassen. Er ist so sehr kollegialer wie persönlicher Natur, denn Franz Liszt dürfte ihm schon vorher anvertraut haben, dass er seit langem mit einer Tondichtung über Dantes opus magnum beschäftigt war. Liszt, zu dessen Lieblingslektüre unzweifelhaft das Versepos gehörte, konnte nun dem Freund ankündigen, dass er bald fertig sei mit einer Symphonie, die gleich seiner Faust-Symphonie dreiteilig konzipiert sei: im Sinne des Dichters. Wagner aber verstand es, schon in diesem Stadium seine kritischen Bedenken anzumelden. In einem langen Brief, der nach seinem Tod auch unter dem Titel Dante – Schopenhauer in den 16. (Nachlass-)Band seiner Sämtlichen Schriften Eingang finden sollte, womit die grundsätzliche Bedeutung dieses Schreibens markiert wurde, im langen Schreiben vom 7. Juni 1855 also nahm Wagner Stellung zur Dante-Symphonie: „Also – eine `Divina Comedia´? Das ist gewiss eine ganz herrliche Idee, und schon genieße ich Deine Musik im voraus. (…) Dass die `Hölle´ und das `Fegefeuer´ gelingen wird, bezweifle ich keinen Augenblick: gegen das `Paradies´ habe ich aber Bedenken, und Du bestätigst sie mir schon dadurch, dass Du dafür in Deinem Plane Chöre aufgenommen ist. Für die 9te Symphonie (als Kunstwerk) ist der letzte Satz mit den Chören entschieden der schwächste Theil, er ist bloß kunstgeschichtlich wichtig, weil er uns auf sehr naive Weise die Verlegenheit eines wirklichen Tondichters aufdeckt, der nicht weiß, wie er endlich (nach Hölle und Fegefeuer) das Paradies darstellen soll.“

Mit dem Paradies also habe es „einen bedenklichen Haken“. Schon Dante selbst bestätige es, weil dieser Teil „entschieden der schwächste“ sei. Zwar: „Ich bin Dante mit tiefster Sympathie durch Hölle und Fegefeuer gefolgt; mit heiliger Rührung wusch ich mich, aus dem Höllenpfuhl aufgestiegen, am Fuße des Fegefeuerberges – mit dem Dichter – im Meerwasser, genoss den göttlichen Morgen, die reine Luft, stieg auf von Stufe zu Stufe, tödete eine Leidenschaft nach der andern, bekämpfte den wilden Lebenstrieb, bis ich endlich, vor dem Feuer angelangt, den letzten Willen zum Leben fahren ließ, mich in die Gluth warf, um, in Beatrices Anblick versinkend, meine ganze Persönlichkeit willenlos von mir zu werfen.“ Das alles aber diene nur dem Katholizismus und seiner Lehre, dass Gott diese von ihm, Wagner, erlittene Hölle nur „zu seiner Verherrlichung sich geschaffen“ habe – und zwar durch die „eines großen Geistes unwürdigsten Sophismen, ja kindischsten Erfindungen.“ Um Dante gerecht beurteilen zu können, bliebe also nur der Rückzug auf einen „historischen Standpunkt“: „Ich musste mich in Dante´s Zeit versetzen, und die eigentliche Absicht seines Gedichtes in´s Auge fassen“, die, so Wagner, auf eine Kirchenreform hinausgehe. In diesem Sinne mochte Dante „durch allgemeingültige populäre Vorstellungen sich unfehlbar“ ausgedrückt haben. Wagners Zustimmung findet besonders der Preis der Heiligen der Armut. Selbst dort, wo Dante „sophistisch“ wurde, müsste Wagner „seine hohe dichterische Phantasie und Darstellungskraft bewundern“, auch den Umstand, dass der Dichter mit der Jugendliebe Beatrice die göttliche Lehre personifiziert habe: „Und in so weit jene Lehre eben nur die Anleitung zur Befreiung des persönlichen Egoismus durch die Liebe ist, erkenne ich diese Beatrice-Lehre mit Wonne an.“ Wenn aber Beatrice „statt jener reinen einfachen Lehre den ganzen spitzfindigen kirchlichen Scholasticismus auskramt“, wird sie für Wagner uninteressant. Woraufhin sich Wagner nur noch wünschen kann, im Feuer das Bewusstsein zu verlieren, „wobei ich mich unstreitig besser befunden haben würde, als selbst in der Gesellschaft des katholischen lieben Gottes.“

Das Problem, das Wagner mit diesem Text hat, berührt sich in seiner sehr persönlichen Optik nun mit dem der „Verneinung des Willens zum Leben“, und also referiert der Komponist ein Konzentrat der jüngsten Schopenhauer-Lektüre, in der auch die buddhistische Lehre von der Seelenwanderung eingeflossen ist. Diese Lehre aber könne nur von „abnorm“ organisierten Menschen begriffen werden: „So verzerrt bei der normalen menschlichen Gemeinheit und Zügellosigkeit des allgemeinen Egoismus das Bild sich nothwendig endlich zur Fratze, und – ich beklage den Dichter, der es unternimmt diese Fratze endlich wieder zum Urbilde umzubilden.“ Die Kritik an Dante wird in diesem Sinn verfeinert: im Paradies sei ihm jener Umschlagpunkt „nicht vollständig gelungen“, ja, „bei seiner Erklärung der göttlichen Naturen kommt er mir wenigstens oft wie ein kindischer Jesuit vor.“ Mit dem Rekurs auf Schopenhauers Definition der Musik – sie sei das „Abbild des Lebens selbst“ – tröstet er seinen Freund schließlich über die latente Unmöglichkeit einer angemessenen Darstellung des Paradieses hinweg: „Da Du dieses Bild in Tönen zu malen unternimmst, so möchte ich Dir fast das Gelingen voraussagen, denn die Musik ist das eigentliche künstlerische Ur-Abbild der Welt selbst (…) Nur für das Paradies, und namentlich für die Chöre – trage ich freundschaftliche Sorge.“

In seiner Autobiographie bestätigte Wagner rückschauend seine Kritik an der ästhetischen Unmöglichkeit, ein Paradies musikalisch malen zu können, obwohl doch Adolf Wagner zufolge gerade der letzte Teil rein musikalischen Charakter trüge. Was Adolf Wagner noch gelobt hatte – die Commedia als Darstellung des Menschengeistes bis zu seiner Vollendung im Christianismus“, der Katholizismus als „Schwerpunkt“ -, konnte für Richard Wagner nur problematisch sein. Ein gutes Jahr später, im Oktober 1856, spielte Liszt seinem Kollegen die Dante-Symphonie vor. Wagner riet ihm, so seine Version, die er der Tochter Franz Liszts in die Feder diktierte, „offen von dem Fehlgriffe des Schlusses“ ab. „Wenn mich etwas von der meisterlichen poetischen Konzeptionskraft des Musikers überzeugt hatte, so war es der ursprüngliche Schluss der Faust-Symphonie, welcher zart und duftig (…) gegeben war. Ganz so schien mir der Ausgang der Dante-Symphonie angelegt, in welchem das Paradies durch das zarte Eintreten des `Magnificat ebenfalls nur als sanftes, weiches Verschweben angedeutet war. Desto mehr erschreckte es mich, plötzlich diese schöne Intention durch einen pomphaften plagialischen Schluss, welcher, wie mir gesagt wurde, den `Domenico´ vorstellen sollte, in beängstigender Weise unterbrochen zu hören. Ich rief laut: `Nein, nein! Das nicht! Heraus damit! Keinen majestätischen Herrgott! Sondern bleiben wir bei dem sanften, edlen Verschweben!´ `Du hast recht´, rief Liszt, `ich habe es auch gesagt: die Fürstin hat mich anders bestimmt; aber es soll nun so werden, wie du meinst.´ Das war nun schön. Desto größer war mein Leid, später erfahren zu müssen, dass (…) dieser Schluss am `Dante´ beibehalten.“ Und Wagner schließt: „Da lag denn nun mein ganzes Verhältnis zu Liszt und seiner Freundin Karoline von Wittgenstein ausgedrückt!“ Tatsächlich finden sich beide Schlüsse schon in Liszts erster Partiturniederschrift. Heute wird gewöhnlich der in dreifachem piano verlöschende H-Dur-Schluss bevorzugt.

Erst drei Jahre später sollte sich in Sachen Dante-Symphonie der Himmel lichten, und zwar in einer Weise, die dem Komponisten des Werks das beste Zeugnis ausstellt, zudem auch den späteren Schwiegersohn in ein Verhältnis zum nachmaligen Schwiegervater stellt, das tiefdeutiger nicht sein könnte. Liszt nämlich widmete Wagner nicht nur sein Werk, sondern versah es auch, nachdem Wagner mehrmals um ein Exemplar nachgefragt hatte, mit einer handschriftlichen Widmung, die die musikgeschichtliche Bedeutung des zuzeiten unerträglichen Kollegen in ein glänzendes Licht rückt: „Wie Virgil den Dante, hast du mich durch die geheimnisvollen Regionen der lebensgetränkten Tonwelten geleitet. – Aus innigstem Herzen ruft Dir zu: `Tu se lo mio maestro, e il mio autore!´ und weiht dir dies Werk in unwandelbar getreuer Liebe Dein F. Liszt – Weimar – Ostern – 59“ – mit diesen Worten parallelisierte sich Liszt dem großen Dante, freilich die Führerschaft des nicht minder großen Vergil herausstellend. Dass diese Widmung fast überdimensional, gewiss frei von aller Ironie ist, hat selbst Wagner schockiert. Seine Reaktion im Antwortbrief vom 7. Mai 1859 vermag auch das Gleichgewicht zum genialen Tondichter herzustellen: Die Widmungsworte hätten ihn, dem Bewidmeten, „ganz positiv schamroth gemacht, glaub´ mir das! Wie jämmerlich ich mich als Musiker fühle, kann ich Dir gar nicht stark genug versichern; aus Herzensgrunde halte ich mich für einen absoluten Stümper. (…) Und nun kommst Du, dem es aus allen Poren herausquillt wie Ströme und Quellen und Wasserfälle, und – da soll ich mir nun noch so etwas sagen lassen, wie Deine Worte.“

So sehr Wagner Liszts symphonisches Diptychon, damit auch Dantes Meisterwerk bewundern konnte, so wenig wollte er sich kreativ auf eine Auseinandersetzung mit dem Dichter einlassen. Lediglich die Notiz eines Plans ist überliefert, den er, kurz nach der Diskussion mit Franz Liszt, dem politischen Dichter Georg Herwegh vorschlug. Dieser, so Wagner in Mein Leben, „wünschte ein größeres episches Gedicht, in welchem er alle seine erworbenen Anschauungen niederlegen konnte, zustande zu bringen. Er selbst hatte auf das Glück Dantes hingedeutet, so etwas wie diese Wanderung durch die Hölle und das Fegefeuer zum Paradies zu finden.“ Wagner schlug ihm also, seinen nicht lange zurückliegenden buddhistischen Studien folgend, als Sujet „den Mythos der Metempsychose“ vor: in Form von drei „Hauptakten, jeden in drei Gesänge geteilt.“ „Der erste Akt würde seinen Haupthelden in der asiatischen Heimat, der zweite in der hellenisch-römischen, der dritte in der mittelalterlichen und modernen Welt wiedergeboren erscheinen lassen.“ Zwar hat Herwegh auch diese Idee nicht ausgeführt, doch gibt es eine Oper des 20. Jahrhunderts, in der sich die Idee der Unsterblichkeit und der Wanderung durch die Zeiten wiederfindet: Leos Janáceks Die Sache Makropoulos. Wagner selbst hätte übrigens im 17. Gesang des Paradiso eine melancholische Erinnerung an sein eigenes Exil finden können. Dort, im Marshimmel, trifft Dante seinen Ururgrossvater Cacciaguida degli Elisei, der ihm über sein zukünftiges, im Augenblick der Niederschrift durchlittenes Schicksal Bescheid gibt:

Von dem, was du geliebt hast, musst du vieles,

Das Liebste lassen! dies der erste Pfeil,

Den abschnellt einst der Bogen des Exiles!

Der Fremde bittres Brot wird dir zuteil,

Und spüren wirst du einst, wie fremde Stiegen

Dem, der sie auf und ab steigt, scheinen steil!

Kein Wort Wagners lässt darauf schließen, dass er sich, wie Liszt im ästhetischen Vergleich, mit dem Exilanten zu identifizieren gedachte, der einst – wie Wagner auch – von seiner Stadt und deren Herrschaft zu schwerster Strafe verurteilt worden war. Noch weniger muss man annehmen, dass Wagner die Ähnlichkeit des Prinzips bemerkte, das Schopenhauers „Willen zum Leben“ mit der „Liebe“ verbindet, die nichts weniger als das All bewegt: „die Sonne und die Sterne“: l´amor che move il sole e l´altre stelle, wie der berühmte Schlussvers der Divina Commedia lautet. Andererseits beherrscht hier wie dort das Motiv der „Erlösung durch Liebe“ beider Hauptwerke, also gerade das Prinzip Amor, das doch, vertraut man dem Schopenhauerianer Wagner, angeblich so unheilbringend, weil dem Willen verpflichtet ist. Allein die Musik dementiert auch hier – wirksamer als jede schriftliche Äußerung – des Musikdramatikers Theorie. Etwas Willenstärkeres, Zwingenderes als die Musik gerade der großen „Erlösungsszenen“ zwischen Tristan und Parsifal ist kaum denkbar. Einer der wenigen Autoren, die etwas ähnliches auf sprachlichem Gebiet vermochten, war Dante mit seiner Reise zum göttlichen Himmelslicht, das zugleich die Liebe ist. Im übrigen war es Wagner vielleicht später selbst aufgefallen, dass es eine bestimmte Situation in einem seiner Musikdramen, nämlich im Tristan gibt, die mit einer Stelle des Inferno assoziiert werden kann – einer Stelle, auf die Liszt in seiner Symphonie selber großen Wert gelegt hatte. Am 16. Oktober 1882 stellte Wagner den Zusammenhang zwischen Mendelssohns Lied ohne Worte op. 19b und Rossinis Otello her: Mendelssohn habe den Refrain des Venezianischen Gondellied benutzt, das Rossini in den den dritten Akts seiner Oper setzte: Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice nella miseria. Genau mit diesen Zeilen erinnert sich Francesca da Rimini im fünften Gesang des Inferno an ihr vergangenes Glück. Desdemona reagiert darauf mit dem Ausruf: Chi sei che cosi canti? – was Wagner vielleicht zu Isoldes Schmerzensschrei „Wer wagt es, mich zu höhnen“ inspirierte, einer gleichsam doppelten Reminiszenz: an das Werk des italienischen Meisters wie an die irdische Liebe, die, weil sie gegen alle gesellschaftliche Konvention verstößt, zum Scheitern verurteilt ist. In Liszts Partitur ist Dantes Vers nun ausdrücklich vermerkt: als einzige Wortstelle des Werks über einer sehnsüchtig breiten Melodie. Die andere ist der berühmte Spruch über dem Höllentor, mit dem die Symphonie im doppelten forte, mit Trompeten und Tuben leitmotivisch beginnt. Im Andante amoroso aber fand Liszt zu einem sinnlichen Höhepunkt, als er die Episode Francesca da Riminis für zwei Soloviolinen, einen sanft wogenden Streichersatz und ein Holzbläsercorps samt Englischhorn zauberhaft komponierte. „Die Bratschen sehr rein, gleichmäßig und zart“, so lautet die Anweisung für den Beginn der ungewöhnlich ungleichtaktigen Passage. Wer will, mag danach im Lento des Purgatorio einen Vorklang der Sehnsuchtsthematik des Tristan hören, die Wagner am 3. März 1860 gegenüber Mathilde Wesendonk mit der buddhistischen Weltenstehungstheorie in Zusammenhang brachte: unerlöste Seelen sind es auch bei Liszt, die die grauen Gründe des Fegefeuers bevölkern, bevor das Magnificat die Befreiung bringt.

Im übrigen besitzt auch dieses Werk des kosmopolitischen Meisters alle Tugenden seiner modernen Kunst: in blühenden, hoch differenzierten Farben entwickelte Liszt aus einfachsten thematischen Zellen eine symphonische Dichtung, die so wenig am konkreten Bild klebt wie sie umgekehrt die Idee eines Bildes im Hörer provoziert. Es war, so betrachtet, wohl nur ein Irrtum, als Liszt beabsichtigte, den Maler Buonaventura Genelli zu beauftragen, Bilder für seine Symphonie zu malen, die während der Aufführung dioramaartig gezeigt werden sollten – ein gesamtkunstwerkelnder Plan, der Alexander Skrjabins Farbsymphonien vorwegnimmt. Dieser Gedanke aber wurde, cum grano salis, von Wagners synästhetischem Programm bereits verwirklicht, als er mit Werken wie dem Lohengrin-Vorspiel oder den Naturlauten des Ring eine adäquate Klangentsprechung zur Bühnenrealität etablierte. Es war nicht zuletzt diese Offenheit der musikalisch szenischen Konzeption, die Wagner an Liszts Tondichtungen faszinierte.

Es wäre, darüber hinaus, nicht mehr als eine sprachgeschichtliche Marginalie, wüssten wir, ob etwas in Wagner während der Lektüre des 16. Paradies-Gesanges aufflackerte, als er auf die Erwähnung der Familie der „Alberiche“ stieß: ein Geschlecht wie andere „im Niedergang der Stadt erlauchte Diener“: gia nel calare, illustri cittadini. In seiner früheren Schrift über die spekulative Identität von Wibelungen, Nibelungen und Ghibellinen hatte er noch kein Wort über den Dichter verloren – der nun für eine gewisse Zeit für einige Assoziationen herhalten musste. Nachdem Mathilde Wesendonck ihn als „Weisen“ bezeichnet hatte, antwortete er am 24.8. 1859 mit einem Verweis auf den Dichter: „übrigens bedenken Sie auch, dass Dante seine selten und leise redenden weisen Männer nicht – im Paradiese antraf, sondern an einem bedenklichen Mittelorte zwischen Himmel und Hölle.“ Und als er kurz darauf sich wiederum in Paris ansiedelte, um ein zweites Mal den Sturm auf die Bastille der Opera zu probieren, schrieb er am 17. September 1859 an Otto Wesendonck aus der 4. Avenue de Matignon, Champs Elysées: „So wäre ich denn wieder einmal im Inferno, und das Paradies läge weit hinter mir. Glücklicher Weise bin ich jetzt aber so weit, mich auf der grünen Wiese am Vorhof zur Hölle (wenn auch nicht in Gesellschaft weiser Männer!) zu halten.“

Tatsächlich wurde das Jahr zu einem der schwierigsten in dem an schwierigen Jahren gewiss nicht armen Leben des Komponisten. Melodramatisch schrieb er am 3. März 1860 an Mathilde Wesendonck: „So kommt es denn nun, Kind, dass der dumme Meister einmal wieder tief und lange einzig in die Kluft blicken muss: – ach! Wie´s ihm dann zu Muthe ist! Keine Höllengegend des Dante hat scheußlichere Klüfte.“

(…)

Frank Piontek, 2005

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