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Siegfried in Bayreuth

Kritik von Frank Piontek

Ich glaube, der Blick in die Vergangenheit im Ring, akzentuiert durch die retrospektiven Erzählungen, das ist der Mythos. Nicht Drache, Tarnkappe oder Wunderschwert.

Valentin Schwarz

Sage keiner, dass er nicht ein Schwert, für manche Besucher ist‘s eher ein Florett, gesehen habe. Siegfried schwingt tatsächlich genau so ein Ding – aber viel wichtiger, psychologisch faszinierender (und erschreckender) und dramatisch glaubwürdiger ist die Tatsache, dass das wirkliche Schmieden des Schwerts auf symbolischer Ebene stattfindet.

Valentin Schwarz bleibt auch am zweiten „Tag“ der Ring-Tetralogie (dem dritten Aufführungstag des Ring) dem Prinzip treu, auf die Requisiten des historischen Zaubertheaters zu verzichten. Natürlich: auf den ersten Blick wirkt auch sein Blick in Mimes Wohnhöhle, die vormals Hundings Haus war (eine die Zeiten und Familien zusammenbindende Idee, die in Bayreuth schon in Jürgen Flimms Ring funktionierte), wie ein Blick in eine ordinäre Wohnhölle. Da wird ordentlich Geschirr zerschlagen, Mime malträtiert, herumgepöbelt; man hat das inzwischen oft, vielleicht allzu oft gesehen. Angesichts der infantilen Rohheit und musikalischen Präpotenz, mit der Wagner seinen Siegfried ausgestattet hat, wenn er sich nicht gerade sehnsüchtig an seine Mutter erinnert und die Streicher ihren zärtlichen Aufwärtsgang vollführen, angesichts der Charakterisierung Siegfrieds als eines „bösen Buben“ und „schmählichen Knaben“ ist es schon richtig, das wilde, undomestizierte, seiner Affekte nicht Herr werdende Kind über die Bühne wüten zu lassen. Wenn der wilde Knabe den Kopf des Ziehvaters, leicht sinnfrei, aber so ist der ungezogene Kerl eben drauf, in die Mikrowelle drückt und mit dem armen Kerl zur Abkühlung ein waterboarding veranstaltet, kennen wir das alles schon aus 100 anderen Inszenierungen. Der Gedanke „Ich kann es nicht mehr sehen“ sollte sich allerdings nicht beim gelangweilten Zuschauer einstellen, denn nun passiert Folgendes: Siegfried lässt zwar kurz per Schneidbrenner gewaltig die Funken sprühen, aber das eigentliche „Schweißen“ eines realen Schwerts kann schon deshalb nicht stattfinden, weil der Youngster die Waffe bereits, und auch dieses Requisit ist bedeutend, aus dem Geschenk gezogen hat, das Wotan selbst, als „Schaffender“, zuvor in Mimes Haus brachte: buchstäblich und übertragen aus einer Krücke. Die technische Produktion der Waffe fällt aus – das Schmieden des Schwerts aber ist sichtbar, wenn denn der Akt, der für Wagner viel mehr war als die Darstellung einer „Heldentat“, irgend eine wirkliche Bedeutung haben soll. Indem Siegfried in der Neuinszenierung so gut wie alle Gruselpuppen, die ihm Mime in den letzten Jahren gebaut hat, zerhaut, auseinandernimmt und physisch zerstört, emanzipiert er sich von der Erziehungs-Kunst des und der Alten. Nur eine Puppe – es ist nicht zufällig die größte – wird von seinem Furor ausgenommen: die Repräsentantin Sieglindes (übrigens: dass diese Figur von Mime in das Rot der Walküren und nicht in das ihr eigene Himmelblau gekleidet wurde, ist erklärungsbedürftig; Mythos heißt ja auch, Fragen zu stellen, die man nicht eindeutig beantworten kann). Indem er die Symbole seiner Kindheit brutal vernichtet, findet er den Weg in eine andere Welt als die, die er schon kennt. Zugegeben: es wirkt zunächst irritierend, dass Siegfried sich schon im ersten Akt eine noodle box von seinem Chinesen holt und weiß, wo das Braunbier zu haben ist, das er gern ins Haus bringt. Dies eben ist Siegfrieds „Welt“, hier steht er, durchaus souverän, in seinem „Wald“ – die weitere Welt, die Sphäre der sog. Erwachsenen, wird er im Lauf des Stücks erkunden, nachdem er von Mime schon mal mit eindeutigem Material per Playboy-Centerfold in die Sex-Welt eingeführt wurde, die das Pubertier wohlig frösteln machen soll.





Ansonsten benimmt sich der Siegfried des ersten und zweiten Akts genau so, wie wir es von den Siegfrieds der Ring-Bühnen erwarten: wild. Der neue Siegfried, der mit dem Siegfried-Siegfried am Hügel debütiert, ist Andreas Schager, der das szenisch und vokal, bei einigen vielleicht ein wenig zu tiefen Tönen, großartig macht, auch wenn man ihm wünscht, dass er nicht erst im Schluss-Akt zu leiseren Tönen finden sollte; in den vorderen Parkettreihen haben die Leute, so betrachtet, akustisch nichts zu lachen. Andererseits heißt die Oper ja auch Siegfried und nicht Mime, auch wenn Arnold Bezuyen einen sehr prononcierten, genauen und spielfreudigen „Zwerg“ auf die Bühne stellt.

Dass Schwarz eminent musikbezogen inszeniert, kann nur von dem übersehen werden, der die Augen während der Aufführung schliesst. Wenn der Rowdy zu den rhythmischen Hammerschlägen seiner Schmiedelieder auf die drei Seiten eines Türrahmens schlägt, ist das einfach mitreißend. Wenn Mime, der gerade im Zaubermantel dem „kindischen Spross“ eine Geburtstagsparty ausgerichtet hat, dem „Kind“ Siegfrieds Vor- und Geburtsgeschichte als Spieler eines Kasperletheaters erzählt, ist das auch akustisch einleuchtend: die Musik schlägt plötzlich in einen völlig anderen Aggregatzustand um. Erinnerungsmotive, die das dritte Stück der Tetralogie an die ersten beiden Teile knüpfen, gibt es auch hier: nicht allein aufgrund der Architektur. Das Pferd in Form eines Plüschtiers, das uns durch Rheingold und Walküre begleitet hat (sage keiner, dass es in der Walküre keine „richtigen“ Hengste gab!), begegnet auch im Siegfried: als kindliches Objekt eines „Welterben“ und als symbolisch-reales Äquivalent; Grane wird im Schlussbild einen sehr schönen und bedeutenden Auftritt haben. Und sehen wir nicht schon in Mimes Wohnung, im ersten Stock, der Werkstatt, die weiße Maske, mit der schließlich Brünnhilde auf die Szene kommen wird? Was kein Widerspruch ist, sondern nur darauf hinweist, dass die Kleinfamilie des Handwerkers, ehemaligen Horthüters und Alberich-Bruders ein integraler Bestandteil der Ring-Großfamilie ist.

Und Wotan? Er schaut mit mehreren Securities in die Wohnhölle hinein, die vor allem herumschnüffeln; dass Wotan zu schauen, nicht zu schaffen kann, ist ja schon eine seiner großen Lügen. Die Regie tut nicht wenig dazu, das Bild des zwischenzeitlich verzweifelnden Rechtsbrechers ins Licht zu setzen. Wer Wotan für einen „traurigen Gott“ hält, hat Recht, wer ihn für „tragisch“ erklärt, hat das Stück nicht verstanden, wer eine „erhabene“ Figur auf der Bayreuther Bühne vermisst, sollte sich vergegenwärtigen, dass Wotan „ein gebrochener Geist“ ist, „an dessen morschem Leib die Schuld schlechthin haftet“, wie Ulrich Strohauer in einem der besten Ring-Bücher ever (Wolken über Walhall) einmal so schön geschrieben hat. Nein, Wotan ist nicht an Reformen oder gar an einer Revolution interessiert, sondern allein an der Wiedererlangung des Ring, der ihn wieder in seine von Naturzerstörung (davon erzählen bekanntlich die Nornen) und Vertragsbruch (das sehen wir im Rheingold) begleitete, amoralische Herrschaft zurückführen soll. Der „neue Mensch“, den er sich angeblich in Siegfried ersehnt, ist eine Totgeburt. Aus diesem Grund ist es auch völlig gleichgültig, von wem der Hoffnungsträger genetisch abstammt – Wotan dürfte jeder recht sein, der für ihn die Kohlen aus dem Feuer holt, wenn er nur „stark“ genug ist, um dem politischen Gegner den Ring wegzuschnappen; was Wotan von Familienbanden hält, sieht man am Ende des zweiten und dritten Walküre-Akts: realiter nichts. Wagner wusste schon, was er schrieb, als er Wotan als „Summe der Intelligenz“ seines, vom Komponisten zutiefst verachteten Zeitalters bezeichnete. Die Inszenierung macht, das ist völlig richtig, keinen Hehl daraus, dass mit Wotan kein (guter) Staat mehr zu machen ist; auch der „Lichtalbe“ sitzt, wie sein feindlicher Bruder, der „Nachtalbe“, der von Olafur Sigurdarson dramatisch wach gestaltet wird, a-sozial und scheinbar unbeteiligt auf der Szene, wenn der greise Fafner in Gegenwart Hagens sein Leben ausröchelt. Tomasz Konieczny macht das stimmlich und gestisch an diesem Abend so gut, dass er, völlig zurecht, am Ende mit einem Riesenbeifall belohnt wird: bei allen Einschränkungen des eigentümlichen Tonfalls seiner Stimme.

In Gegenwart Hagens? In der Tat: Hagen, gemimt von Branko Buchberger, dient, wie der entzückende Waldvogel, als Krankenwärter an Fafners Totenbett; der Alte, bettlägerig, von Wilhelm Schwingammer charakteristisch gesungen, vegetiert in einem Raum Walhalls nur noch vor sich hin. Er liegt, besitzt und kann nur noch schlafen, wenn er nicht gerade die Waldvögelin schlägt (nb: Siegfried kümmert sich, das dürfte kaum ein Zufall sein, in gleicher Weise körperpflegend um den alten Mime). Der junge Hagen trägt ein knallgelbes Hemd und blaue Hosen, im Rheingold trat bereits ein Kind mit eben diesem Kostüm auf, in der Götterdämmerung werden ihm immer noch seine zwei Farben zugeordnet sein. Inszenatorisch ist die Sache also klar: der kleine, der junge und der reife Hagen sind eins; wir wollen nicht annehmen, dass der brutale Knabe im Rheingold nicht der kleine Hagen ist. Dies ist natürlich ein dramaturgisches Problem, denn bekanntlich, Wotan erzählt es uns ja, hat Alberich erst irgendwann zwischen Rheingold und dem zweiten Walküre-Akt Frau Griemhild ein Kind gemacht. Aber…

Hagen ist zweifellos „der Welt Erbe“, oder korrekter: einer der Nachfolger. Denn der Streit um den „Ring“, der in der Götterdämmerung in die finale Runde gehen wird, und der sich im Bayreuth des Jahres 2022 wiederum um einen weiteren, kleinen „Reif“ drehen wird, scheint unendlich zu sein, bevor die Schlusstakte der Tetralogie endlich für Ruhe im Ring-Kampf sorgen. Insofern ist es, siehe oben, völlig gleich-gültig, wann Hagen auf die Welt kommt. Allein die Tatsache, dass er als Objekt eines Weltbeherrschungswillens zu fungieren hat, macht es verständlich, dass seine Abstammung im dramaturgischen Gesamtzusammenhang weniger wichtig ist als die Tatsache, dass Alberich sich schon im Rheingold des dynastisch offensichtlich herausragenden Knaben bemächtigt. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass Wotan nicht die Wahrheit sagt, wenn er die Herkunftsgeschichte des Albensohns erzählt; selbst die Musik seines großen Monologs gibt uns keine Antwort auf die Frage, ob der „Gott“ sich nicht wieder etwas vormacht, wenn er uns erzählt, dass Alberichs „jüngst“ einen Sohn gezeugt habe, den Erda, angeblich, prophezeit hat. Dass Erda wenig weiß, erfahren wir spätestens im dritten Siegfried-Akt… und dass Wotan von sich und der Welt eine völlig falsche Vorstellung hat: davon erzählt ja schon die Wissens-Wette.

Zugegeben: Diese These mag sehr sophisticated klingen, aber wenn man erst einmal akzeptiert hat, dass dramaturgische Stringenz und Bedeutung auch durch die Neugewichtung wesentlicher Motive (wir reden hier, in wagnerschem Sinn, von Erinnerungsmotiven) gestiftet werden kann, dann erscheint die Anwesenheit Hagens am Swimming Pool der „Rheintöchter“ und in Fafners Sterberaum schon weniger seltsam. Was am Ende über einen gelungenen Theaterabend entscheidet, ist eh etwas Anderes als totale Logik: Spannung – und auch sie herrscht im zweiten Aufzug.

Der Zusammenhang mit dem Hagen des Rheingold ist klar. Erwies sich der Junge zunächst als unempathischer Rohling, hat er sich auch jetzt nicht geändert. Er dumpft halbautistisch vor sich hin (kein Wunder bei diesem Ziehvater), vermag aber auch rücksichtslos zu handeln. Er wird schlussendlich, Siegfried machte den Anfang, Mime mit einem Kissen ersticken. Das ist brutal und sehr genau zur Musik inszeniert: der Stellvertreter Alberichs vollbringt als psychisch gefährdeter, seelisch bleicher Sonderling die Tat, die sich sein „Vater“ nicht zutraut. Er wird den „Tarnhelm“ irgendwann in auf dem Kopf haben, der in einer modernen Welt, die dem Mythos seine eigenen Deutungen geben muss, keine Bedeutung hat, ja haben kann, darum auch kein Objekt der Begierde, sondern nur ein Requisit ist, das man achtlos auf den Boden wirft. Vorher musste das Familienoberhaupt dran glauben: ein Mann, auf dessen Ableben die lieben Verwandten schon sichtbar warteten. Sein Tod durch Herzinfarkt erfolgt weniger durch Siegfried, der den Alten zu Boden schubst, sondern durch unterlassene Hilfeleistung ausnahmslos aller Anwesenden. Selbst der nette und hübsche Waldvogel ist glücklich, dass der alte böse Drache endlich seinen Geist aushauchte; im Schlussakkord des Akts wird sie ihre Krankenschwesterkluft dem Toten lächelnd ins Gesicht werfen (wiederum: kein Widerspruch zur Musik). Bläst Siegfried ansonsten peinlich durch irgendein Rohr, tönt‘s diesmal allein quäkend aus dem Graben: seine Annäherungsversuche an die junge Frau versanden zunächst, bevor sich denn doch im Lauf des Akts ein freundlich-zärtliches Turteln einstellt. Das ist schön und gewandt, heiter und sinnvoll, auch wenn man einwenden mag, dass doch auch schon dieses Vögelchen, das von Alexandra Steiner schön, aber vielleicht ein wenig zu spitzenscharf gezwitschert wird, eine Frau ist. Mag sein – aber es ist nicht die Frau, vor der Siegfried sich dann „fürchten“ wird. Oder, wie eine Ring-erfahrene Besucherin in der Pause so schön sagte: „Schließlich ist er ein Enkel Wotans“. Und dass der „Quell“ des zweiten Akts ein Spirituosenschränkchen ist, das wir schon aus dem Rheingold kennen, ist mehr als ein Witz, als es darum geht, dem hellhörig gewordenen Siegfried unreinen Schnaps einzuschenken.

Bleibt der dritte Akt mit seinen drei großen Szenen. Wieder erfindet Schwarz eine Figur hinzu, die doch eine nict ganz unwichtige Protagonistin des Ring-Zyklus ist. Wotans Walhall scheint sich nach dem Ableben des ganz Alten im vorletzten Stadium des Untergangs zu befinden, hinten liegen, offensichtlich tot oder letal dahindämmernd, zwei Gestalten, während die traumatisierte Waltraute von der mitfühlenden Erda durch den Raum geführt und erst einmal abgelegt wird. Die gewaltige, musikalisch überwältigende Szene, mit der  Siegfried und Siegfried in eine neue Welt eintreten, bleibt groß, allein man darf nicht vergessen, dass hier ein windschiefes Gespräch geführt wird. Ein Mann kommt zu seiner alten Geliebten, um ihr Fragen zu stellen, an deren Antwort er nicht interessiert ist, während sie nicht weiß, was inzwischen draußen passiert ist, geschweige denn, dass sie wüsste, was noch passieren wird. Wotans Mythos besteht aus Erinnerungen an eine gebrochene Vergangenheit, während Erda, als ehemalige Sachwalterin einer höheren Vernunft, schon längst darauf verzichtet hat, sich an irgend etwas zu erinnern oder in die Zukunft zu blicken; die Erweckung aus dem Schlaf zwingt sie nur zu eher schmerzhaften Reminiszenzen und dem Wunsch: „Schlaf verschließe mein Wissen.“ Doch wie im Rheingold lässt die Regie der außergewöhnlichen Frau auch jetzt noch ihre Würde; sie wird nicht gekillt wie im Weimarer Ring, muss nicht, wie bei Castorf, fellativ an Wotan herummachen und die Zeche bezahlen oder, wie in der Valencia-Variante, als fantastische Figur irgend ein diffuses weibliches Welt-Nicht-Wissen repräsentieren. Sie ist einfach eine Frau in einer Familien-Gesellschaft, die ihren inneren Kompass verloren hat. Wenn Okka von der Damerau das mit ihrer eher hellen Altstimme singt, ist‘s sowieso betörend.

Hagen bleibt uns übrigens erhalten – so wie der Kubus mit der Lichtpyramide, in den Erda nur noch verständnislos hineinstarren kann. Adressiert Wotan manch Replik nicht an Siegfried, sondern an Hagen, hat es seinen Sinn, hat er es doch gleich mit zwei Erben zu tun, die im nächsten Stück auch textlich aufeinander stoßen werden. Schließlich die Schlussszene: Valentin Schwarz und seinen Sängern gelingt es, die auch äußerlich monumentalen Dimensionen der Begegnung Siegfrieds und Brünnhildes denkbar kurzweilig anzulegen: auch dank Grane, dem treuen Begleiter, also dem guten Igor Schwab. Nicht zuletzt seine Interaktion mit den Beiden sorgt dafür, dass die Musik immer wieder genaue szenische Ausdeutungen findet: Vorsicht und Verteidigung, Zuneigung und Furcht, all das findet sich en detail realisiert in der Szene – wunderbar ist ja schon der Auftritt Brünnhildes: in der Vertikalen. Nimmt Siegfried ihr nicht die „Brünne“, sondern die bandagierte Maske ab, verstehen wir, was ihre Bannung recht eigentlich bedeutet hat. Zumindest erinnert ihre Camouflage an die Walküren, die sich in der Beauty Clinic gleichmachenden sog. Schönheits-Operationen unterzogen haben. Tatsächlich wird Brünnhilde nach der Walküre nie wieder sein wie zuvor, da ihr jeglicher anarchistischer Impuls ausgetrieben wurde, mag sie auch – es ist eine rührende, die Einzelteile des Ring verklammernde Einzelheit – von Siegfried den schicken Hut in Empfang nehmen, den Wotan nach seiner Begegnung mit Siegfried nicht mehr benötigen wird. Musikalisch und optisch unterscheidet sie sich  stark von der Brünnhilde, die wir vor drei Tagen sahen: Daniela Köhler singt eine damenhafte, kräftige, dabei doch nicht schollernde Frau. Die Brünnhilde des Siegfried und der Götterdämmerung ist nicht mehr die Walküre, die Kopfbedeckung ist ein modisches Artefakt, kein Symbolträger mehr, auch wenn sich Grane und seine Lieblingsfrau über die Restituierung des Teils liebenswürdigerweise freuen.

Das sind so genaue Details, die den Abend bis zum Schluss auszeichnen. Dem entspricht leider nicht  ganz eine durchgehende musikalische Güte. Die Produktion zeichnet wieder ein Orchester aus, das nicht auf Festspiel-Höhe agiert. Cornelius Meister hat den Apparat immer noch nicht ganz im Griff, wieder begegnen Irritationen, die in Bayreuth nicht die Regel sind.

Also: Mag vor allem die Neuinszenierung des ersten Akts zunächst grenzwertig anmuten, so ist sie doch, bei näherem Nachdenken und einer Nachprüfung durch neuerliche Textlektüre, die bei Wagner niemals schadet, sinnreich; Textabschliffe sind, man muss das akzeptieren, hier wie in ausnahmslos jeder anderen szenischen Ring-Interpretation, schlicht unvermeidbar. Selbst die hochgelobten Wieland- und Chéreau-Ringe hatten es damit zu tun. Der erste Akt ist zweifellos grenzwertig, aber er ist gut grenzwertig, wobei die Betonung auf „gut“ wie auf „grenz“ und „wertig“ liegt. Schwarz und sein Team haben keine halbherzige, sondern eine konsequente Interpretation vorgelegt. Sie haben keinen politisch korrekten Mittelweg eingeschlagen, sondern sind ihre persönliche und ziemlich unverwechselbare Fährte weitergelaufen. Sie verzichten, sehr souverän, auf Schemata, die wir, seien wir mal ehrlich, alle nicht mehr gut finden, wenn wir den Ring mehr als zweimal gesehen haben: die Prozedur des Schwert-Schweißens, das Spiel auf dem „Rohr“, das Öffnen der „Brünne“. Sie schieben alle diese Konventionen eines historisch gewordenen, nicht in die Moderne zu integrierenden Theaters in die Schublade, aber nicht, um sie vergessen zu machen, sondern um sie durch intelligente, szenisch wirkungsvollere und im Kontext der gesamten Ring-Inszenierung bedeutende Elemente in Hegelschem Sinn aufzuheben, also zu bewahren und gleichzeitig zu ersetzen. Sie machen das mit Glück und dem Wissen um die Inhalte des Stücks; wer behauptet, dass sie das Werk nicht kennen würden, verkennt die Gesetze eines lebendigen Musiktheaters, das lieber Kollateralschäden mit der Tradition in Kauf nimmt als auf das eigene Nachdenken über den unausschöpfbaren Stoff zu verzichten. Wer zudem manche Details zumal des ersten, zweiten und dritten Akts für pervers, verfehlt und falsch hält, darf das gern machen. Viel perverser ist der exorbitante Preis für die sog. Festspielwurst, die der Besucher vor den Toren des Hauses auf den Tresen legen muss. Was hätte Wagner wohl dazu gesagt?

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