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Karl Simrock und Richard Wagner

Liebe Wagnerfreunde in BONN und anderswo,

eigentlich hätte – immer diese „eigentlich“! In Bonn wäre das
Beethovenfest über die Bühne gegangen, und der Internationale
Wagerverband hätte dort seinen Kongress veranstaltet. Nun, aufgeschoben
ist nicht aufgehoben.

Wagner und BONN? Da fallen einem zuerst die Wesendoncks – und Simrock ein.

Was der große Philologe mit Wagner und Bayreuth zu tun hat: Ich hab’s
2013 im Wagner-Lexikon (Laaber-Verlag) beschrieben – anbei also die auf
Wagner bezogenen Teile meines Artikels.

Herzliche Grüße nach BONN und anderswo.

Ihr Frank Piontek

Karl Joseph Simrock

*28.2. 1802 Bonn †18.7. 1876 Bonn

Karl Simrock gehört zu jenen Urvätern der Germanistik, die, obwohl eher dichterisch als streng philologisch orientiert, unendlich viel für die Verbreitung jener Texte getan haben, die Wagner unschätzbar inspirierten.

Ging es Simrock darum, das „erstorbne Vaterlandsgefühl wieder ins Leben zu rufen“ (ebd., S. 51), so geriet schon früh das Nibelungenlied in den Fokus seiner Aufmerksamkeit, das er 1827 veröffentlichte. Es sollte, neben den Deutschen Volksbüchern (vgl. Cosima Wagner am 13.1. 1869) zu einer seiner erfolgreichsten Publikationen werden. 1831 legte er die erste vollständige Stabreimübertragung der Älteren Edda und eines Drittels der Jüngeren Edda vor, also jene Texte, die die Hauptquelle für den Ring des Nbelungen bilden. Als Verfasser einer Mythologie in der Nachfolge Jacob Grimms (dessen Deutsche Mythologie für Wagner entscheidend wurde) setzte er 1853-1855 eigene, wenn auch (nicht immer) irrtümliche Akzente, ohne an die Bedeutung von Grimms Großwerk heranzureichen: waren für Grimm die Helden vergöttlichte Menschen, so dem Dichterphilologen vermenschlichte Götter. Simrocks Mythologie beruht auf spekulativen naturmythologischen Deutungen, auch interpretierte er die Edda ausdrücklich als Denkmal der deutschen Mythologie; so versteht sich der Titel Handbuch der deutschen Mythologie mit Einschluss der nordischen. Tatsache bleibt, daß, wie Wagner schrieb, „die Lieder der Edda, welche seitdem durch Simrock sehr leicht zugänglich gemacht worden waren, Jeden einzuladen schienen, es doch auch in der Weise, wie ich dieß gethan zu haben schien, an der altnordischen Quelle zu versuchen“ (Schriften 6, S. 262f.).

Simrocks Hauptwerk war ein monumentales, dreibändiges Werk, dessen 1835 separat publizierter erster Teil Wagner zu einem Operntext inspirierte. Simrocks größte Umschöpfung war für den Autor, der sich als Vollender des Mythos sah, welcher im Mittelalter dichterisch gestaltet wurde, das Amelungenlied. Mit diesem 7000 Strophen umfassenden Werk goß er die außerhalb des Nibelungenliedes angesiedelte deutsche Heldensage – mit Dietrich von Bern als zentraler Figur – in ein Großepos, das den Leser auf die deutsche nationale Stärke veweisen sollte: „Das Ziel ist das Herz der Nation“, wie Simrock sagte (Moser, S. 384). Auch in Wahnfried wurde dies begriffen, als man am 13.3. 1869 Eckens Ausfahrt las und in Dietrich von Bern den „ächten deutschen Typus; besonnene Ruhe, durchaus keine Streitlust, und furchtbare Kraft, wenn einmal gereizt“, entdeckte. Simrock wurde in seiner Arbeit selbst von strengen kritischen Philologen wie den Gebrüdern Grimm bestärkt – Jacob Grimm fand hier „eine Menge der schönsten Sagen höchst geschickt und kunstfertig zusammengerichtet“ (Grimm-Briefe, S. 29) – auch wenn sie die Schwächen der Philologendichtung (die ausufernden, bisweilen nur lose verbundenen Handlungsstränge und den gelegentlich inhomogenen Sprachstil) bemerkten. Die von Simrock selbst gestellte Forderung der Sinn und Klangäquivalenz wurde zweifellos nicht erfüllt, auch wenn es Laienleser anders sahen. Anläßlich der Lektüre bemerkte Wagner, Simrock „habe gerade von der alten Sprache herübergenommen, was notwendig und verständlich war. ‚Wie konnte nur nach solchen Arbeiten so etwas wie der ‚Trompeter von Säckingen‘ in dieser negligenten Ausführung populär werden?’“ (Cosima Wagner, 17.3. 1878). Andererseits erschien die Übersetzung des Nibelungenliedes „etwas platt“: der Jambus zwinge „nicht zur Kürze, sondern zur Länge“ (ebd., 10.7. 1878).

Mit dem Amelungenlied enstand eine Mixtur aus verschiedenen mittelalterlichen Epen, aus Märchen und Sagen in Nach- und Neudichtungen, auch unter Einschluß von Sagen aus dem Nibelungenkreis, die im Nibelungenlied selbst fehlen. Die drei Bände erschienen als vierter bis sechster Teil des Heldenbuchs in den Jahren 1843 bis 1849, 1863 wurden in einer zweiten Auflage bedeutende Erweiterungen vorgenommen, so Sigfrids Ahnen- und Jugendgeschichte. Das Amelungenlied enthält auch die Episoden des Drachenkampfs, der Erweckung Brünhilds und ihrer Verlobung mit Sigfrid sowie die Zaubertrank-Episode. Wagner hat von Simrock das Verfahren der Mythensynthese übernommen und radikalisiert. Schon Simrock integrierte Götter- und Heldengeschichten, auch gibt es bei ihm Handlungsreferate: aufbauend auf diesen Simrockschen Techniken wurde Wagner ein konsequenter Mythenmacher.

Für Wagner aber wurde, stofflich betrachtet, weniger die Nibelungengeschichte als der erste Teil über Wieland den Schmied wichtig, auch wenn er für seinen Ring die simrockschen Neuprägungen Walvater und Wälsungenblut übernehmen konnte. 1850 entwarf Wagner seine Oper Wieland der Schmied auf der Grundlage der Simrock-Lektüre, wobei er selbst den Abstand seiner Dichtung von der Vorlage bemerkte (Briefe 3, S. 217). Wagner reduzierte, wie in all seinen Opern und Musikdramen, die Stoffülle auf die wesentlichen, neu interpretierten Handlungsstränge, wobei er in diesem Fall nicht wie üblich auf das Original, sondern auf eine den Stoff und den Stil verändernde Adaption zurückgriff. Andererseits scheint Wagner, der Simrocks Buch vermutlich als authentische Übertragung echter Texte betrachtete, bei seiner Bearbeitung die Völsungasaga, obwohl er sie nicht zur Hand hatte, im Gedächtnis gehabt zu haben, da seine Handlungserzählung eher Simrocks Vorlage als Simrocks Fassung entspricht. Gleichzeitig übernahm er Simrocks Änderungen, um sie zu modifizieren.

Simrocks Wirken spielte schon in frühere Wagner-Werke hinein. Das Liebesverbot, basierend auf Shakespeares Measure for measure, verdankt einige Details Theodor Echtermeyers, Ludwig Henschels und Simrocks Quellen des Shakespeare in Novellen, Märchen und Sagen (1865 bis 1867 beteiligte sich Simrock an der uneinheitlichsten und farblosesten aller Shakespeare-Ausgaben, die vom Wagner-Intimus Franz von Dingelstedt redigiert wurde. Am 4.9. 1874 scheiterte Cosima Wagner an der Lektüre Shakespeares und Simrocks, als man sich Venus und Adonis vornahm: „zuerst lesen wir aus dem Vorwort von Simrock, und das Geschwätz über die Moralität oder Nicht-Moralität Shakespeare’s widert mich an“). Im Fall des Tannhäuser fügte Wagner dem Namen des Titelhelden das Wartburgmotiv hinzu, das er, „ursprünglich der Tannhäuser-Mythe fremd, mit dieser in Verbindung gebracht hatte, woran leider später der so sehr von mir geschätzte Sagen-Forscher und Erneuerer Simrock Ärger nahm“ (Mein Leben, S. 314). 1845 las er den Parzival und den Titurel in der 1842 erschienenen Übersetzung Simrocks, und es wäre sinnreich gewesen, wenn die Tristan-Ausgabe, die Schumann von Mendelssohn geschenkt bekam und im Sommer 1846 Eduard Hanslick zeigte, nicht, wie Hanslick irrtümlich meinte, von Hermann Kurtz, sondern von Simrovk geschrieben worden wäre, bevor der Musikkritiker am nächsten Tag Wagner aufsuchte, wo er Wagner vielleicht auf dieses dem Komponisten bis dato unbekannte Werk aufmerksam machte (Hanslick 1, S. 67-69).

Simrock hat jedoch nicht nur indirekt, sondern auch persönlich für Bayreuth gewirkt: „In der Kahntischen Zeitung wird ein Preis für die beste Arbeit über den Ring des Nibelungen ausgeschrieben, die Preisrichter sind Karl Simrock in Bonn, der Germanist Dr. Moritz Heyne und Freund Nietzsche, der Preis besteht in einem Patronatsschein. Die Art, wie die Aufgabe gestellt, wie die ganze Idee ist vortrefflich“. (9.2. 1873) Tatsächlich war Simrock derjenige, der die eingesandten sagenkundlichen Arbeiten als Kapazität meinungsführend bewertete. Simrocks Verhältnis zu Wagner war indifferent, denn er scheute sich nicht, dem ersten Brief an Nietzsche eine Flugschrift gegen das Rheingold beizulegen (Einblicke in Leben und Werk, S. 154f.).

Simrock starb während des zweiten Durchgangs der Proben zu den ersten Bayreuther Festspielen, die er mit seinem Einsatz für die „altdeutsche“ und isländische Literatur durchaus provoziert hatte – ein Einsatz, der die gelegentlichen Irrwege der Übersetzungen stark relativiert. Sein literarisches Werk wurde von der Literaturwissenschaft völlig überholt, und doch hat das populäre Wirken des gelehrten wie humorvollen, die Literaturwissenschaft wie die Dichtkunst liebenden und praktizierenden Mannes die Kenntnis jener literarischen Denkmäler so breit erschlossen und das Mittelalterbild des 19. Jahrhunderts derart geformt, daß Wagners Werk, so wenig er auch direkt zu Simrockschen Übersetzungen griff, als ein Ergebnis der Tätigkeit Karl Simrocks gelten muß. „O einziges, herrliches Volk! Das hast Du gedichtet, und Du selbst bist dieser Wieland! Schmiede Deine Flügel, und schwinge Dich auf!“ (Schriften und Dichtungen 3, S. 177) – dieser begeisterte Schlußsatz des Kunstwerks der Zukunft gilt ebenso dem „Volk“ wie dem Vermittler der „Volkspoesie“, der die Texte dem Vergessen entriss, um sie auch dem Opernkomponisten zur Verfügung zu stellen.

Frank Piontek

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