Liebe Musik-Theater-Freunde,
ich weiß nicht, ob Sie gestern eine Flasche Weißwein öffneten (und tranken) und sich eine Zigarette anzündeten, um den Geburtstag eines herausragenden Regisseurs zu feiern – denn gestern wurde HANS NEUENFELS 80 Jahre alt.
Wenn Sie in diesem Moment den Affekt nicht unterdrücken können, der Ihnen sagt, dass ein deutliches „Aaah!!“ die angemessenste Reaktion für diese Mitteilung sein könnte – wenn Sie also den sog. „Ratten-Lohengrin“ nicht mochten und der Meinung sind, dass „Werktreue“ objektiv nachweisbar sein könnte, empfehle ich Ihnen die wunderbaren Texte von Hans Neuenfels. Denn der Regisseur gehört zur äußerst seltenen Spezies der Regisseure, die ebenso gute Schriftsteller, ach was: Dichter sind. Man merkt nämlich nicht allein dem Regisseur, sondern auch dem Dichter Neuenfels an, dass er beim Surrealisten Max Ernst in die Schule ging, dem er vor vielen Jahren assistierte. ich empfehle Ihnen also, seine Autobiographie zu lesen – Das Bastardbuch, veröffentlicht nach der Lohengrin-Premiere, enthält auf den Seiten 435-440 einen sehr schönen Text über seine Bayreuther Arbeit, auch über Wagner. Die Aussage, dass Wagners Musik (wohl nicht allein die der Meistersinger) voller „Witz, Zärtlichkeit, umwerfenden Mut zur Trivialität und Haltung, Skepsis“ sei, findet sich hier wie in seinem Besuch in Bayreuth (2007), abgedruckt im schönen Sammelband Wie viel Musik braucht der Mensch? Über Oper und Komponisten (2010). Wie gesagt: Texte eines Dichters, weniger eines Regisseurs, oder anders: eines poetischen Regisseurs. Seine Inszenierungen zu verstehen heißt: sich auf die Fantasie, das Überreale, auch den Humor zu verlassen, der auch ein Teil von Wagner ist.
Zugegeben: Es ist durchaus nicht selbstverständlich, in Wagner – ausgerechnet in Wagner! – diese Eigenschaften zu erkennen und so auf die Bühne zu bringen, dass der überraschte Zuschauer unwillkürlich zu lachen beginnt. Auch ich musste lachen, als ich das erste Mal – in der GP des Lohengrin – die großen und v.a. die kleinen Ratten (die keine sind) sah. Noch mal zugegeben: Ich fand das auch zunächst ridikül – bis ich mich in diese Inszenierung verliebte: weil sie theatralisch äußerst klar und sauber gearbeitet ist, freilich auch dank der Mitarbeiterin Susanne Oeglaend, der wir, wenn nicht alles täuscht, die Choreographie dieser inkommensurablen Arbeit verdankten, auch dank Reinhard von der Thannen, der das schlackenlose Bühnenbild entwarf: also den idealen Raum für Neuenfels‘ Fantasie-Räume. Ihr war mit dem mitschwingenden Vorwurf, dass das alles nicht „realistisch“ sei, schon deshalb nicht beizukommen, weil Theater, noch weniger die Oper, dieses künstlichste aller Kunstwerke, niemals realistisch zu sein vermag. Sonst wäre es nicht Oper.
Wie Neuenfels es in seinem Text von 2007 den Meister selbst, dem er im Büro der Festspiele persönlich begegnete, sagen lässt:
Das dramatische Kunstwerk braucht die ständige Veränderung durch den lebendigen Menschen, den wechselnden Raum und die wechselnde Zeit.
Was bedeutet, dass die „Ratten“ eben keine Ratten sind. Um dies zu sehen, genügte es schon, genau hinzuschauen: Der Bühnenbildner sprach damals (abgedruckt im Premieren-Programmheft der Festspiele 2010) von „Rattigem im Menschlichen“ und „Menschlichem im Rattigen“ – oder anders: Neuenfels‘ Tiere, die zahlreich in seinen Inszenierungen (unvergesslich etwa die gildaentführenden Frösche in seinem Berliner Rigoletto) auftreten, sind, wenn schon, Fabeltiere, keine „natürlichen“ Wesen.
Wer sich über Neuenfels‘ Wagner informieren will (es lohnt sich, denn Neuenfels ist ein hervorragender Causeur), sollte die erwähnten Texte, seinen Essay im Bayreuther Programmheft von 2011 (Wagners Musik denkt groß), das Gespräch über den Tannhäuser im Essener Programmheft von 2008 – im Stuttgarter Meistersinger-Programmheft von 1994 findet sich leider kein Text von Neuenfels – und vor allem den Initialtext von 1982 lesen, der seinen Weg in den 2010er-Sammelband fand: Das Wagnerfestival in Altaussee. Nur ein Ausschnitt:
Ich habe im Lauf der Jahre immer mehr begriffen, dass der größte Teil der interpretierenden Literatur nichts anderes ist als die mit Informationen abgestützte Angst, einen Komponisten, einen Dichter ganz auf sich zukommen zu lassen – bis zur Verwirrung, bis zur Verzückung; wobei vorausgesetzt werden muss, dass es keine Kunst ohne Konflikt und kein Kunstwerk ohne anarchistischen Impuls gibt.
Dass es kein Kunstwerk ohne anarchistischen Impuls gibt… Da war / ist Neuenfels ganz bei Wagner und der Periode zwischen dem Lohengrin und dem Ring, die bewiesen hat, dass Anarchie nur in jener Utopie gelebt werden kann, die in Neuenfels‘ Lohengrin-Inszenierung auf sehr unverwechselbare Weise Gestalt wurde, und die ihn dazu brachte, das Abgründige der Meistersinger in eine parodistische Komik aufzulösen, die dem Werk selbst eignet. So wie sie auch im Tannhäuser nistet, wenn man ihn anzuschauen vermag wie nur Neuenfels es vermochte: mit dem Wissen, dass die „Engel“ und „Teufel“ dieser Oper und dieser Inszenierung nicht zugeordnet werden können noch konnten. Denn Eindeutigkeit, ja „Werktreue“ (was wäre das heute?), ist der Tod der Oper.
Ich könnte noch viel über Neuenfels schreiben, über Erinnerungen an Inszenierungen, die manchmal wirr, manchmal etwas langweilig (nach 4 Stunden kann ein 5. Akt verdammt zäh sein), manchmal brillant und bewegend, mit einem Wort: oft einfach gut und unterhaltsam waren. Die Soldaten, Genets Balkon, Così fan tutte, die Macht des Schicksals, die zur umtosten Berliner „Schlacht des Schicksals“ werden sollte, Wedekinds wundersame Franziska, Dorsts Verbotener Garten: egal, ob das alles immer durchgehend „gelungen“ war (es war oft gelungen) – vergessen habe ich keine dieser Abende.
Ebenso wenig wie seine beherzte Aufforderung an den Laboranten während der GP des zweiten Lohengrin-Akts: „Hau ihm die Spritze in den Arsch!“
Und auch das war – entschuldigung – großartiges Theater.
Also: Zur Erinnerung an die Ratten, die keine waren – und an einen herausragenden Musik-THEATER-Regisseur:
Beste Grüße
Ihr Frank Piontek