Liebe Freunde der Musikgeschichte,
Walter Wioras „Die vier Weltalter der Musik“ (laut Untertitel ein „universalhistorischer Entwurf“) – ein schmales, aber ergiebiges Buch von 1961, das 1988 in leichter erweiterter Neuauflage bei dtv/Bärenreiter neu aufgelegt wurde – lesend, stoße ich in Zusammenhang mit dem dritten „Weltalter“ auf folgende Stelle:
„1829 war das Jahr sowohl der Wiederaufführung von Bachs ‚Matthäuspassion‘ als auch der ‚Symphonie fantastique‘ von Berlioz; im Jahre 1850 wurde die Bachgesellschaft gegründet und erschien Wagners Schrift ‚Das Kunstwerk der Zukunft‘. Das Zusammenfallen solcher Daten bezeichnet nicht nur einen Gegensatz, denn die Fortschrittsparteien des 19. Jahrhunderts strebten, anders als der spätere Avantgardismus, sowohl nach Neuerungen als auch nach Erneuerung und nahmen in breitem Umfang alte Stilmomente wieder auf. Für Wagner ist konstitutiv, dass er nicht nur die Entwicklung der Chromatik, Akkordik, deklamatorischen Rhythmik usw. vorantrieb, sondern auch aus dem wiederbelebten Erbe Bachs und Palestrinas, aus dem Gregorianischen Choral und aus archaischer Einstimmigkeit schöpfte und auf den Kontrast zwischen alten und neuen Zügen hin Werke wie den Parsifal mit seinem Gegensatz zwischen der Sphäre der Gralsritter und Klingsors Zaubergarten konzipierte.“
Wiora lehrt uns vor allem, dass Wagner zugleich als einzigartiger Exponent seiner persönlichen Kunst wie als Bewahrer dessen figuriert, was man durchaus als ewigen Zeitgeist bezeichnen könnte. Die Beobachtung beschränkt sich dabei nicht allein auf die Tatsache, dass Wagner etwas ältere Modelle, die er bei Bach und Beethoven vorfand, sich anverwandelte. Interessant wird der Fall dort, wo wir ihn auf demselben Boden sehen, der spätestens seit dem Mittelalter bereitet wurde – er aber hängt wiederum mit archaischer Musik zusammen, die mit Hilfe der Musikethnologie und wenigen alten Manuskripten rekonstruiert werden kann.
In diesem Sinne war Wagner, wie Schönberg über Brahms sagte, zwar ein Progressiver, doch zugleich ein Traditionalist. Dies zu erkennen bedeutet nicht, seine Modernität zu leugnen – es ist jedoch immer wieder spannend, schon in der Renaissance Harmonien zu hören, die erst bei Chopin und Wagner wieder auftauchen: aus der Tiefe der Musikgeschichte.
Beste Grüße
Frank Piontek